Die Ein-Euro-Orgel
oder: Wie ich mich zum Mörder machte
Ich habe es wirklich ernsthaft versucht. Mehrere Jahre lang. Orgelspielen ist eine wunderschöne Sache. Es wurde nicht ganz das daraus, was ich mir ursprünglich ausgemalt hatte. Aber ich werde nicht vergessen, wie eines Tages eine riesige Orgel in meinem Zimmer stand.
Nach dem Studium der Musikwissenschaft hatte ich mich im kirchenmusikalischen C-Seminar an der Universität der Künste in Berlin eingeschrieben. Nach gefühlt 20 Semestern Notenzählen ging es jetzt endlich wieder an die musikalische Praxis. Zuerst belegte ich nur Chorleitung, aber beschwingt durch die facettenreiche Welt der Kirchenmusik verspürte ich bald auch große Lust, mich an der Orgel zu versuchen. Ich absolvierte eine kurze Aufnahmeprüfung, und schon durfte es losgehen. Ich bekam zwei Lehrer zugewiesen (für Literatur und Liturgie), bei denen ich mich wöchentlich auf der Orgelempore einzufinden hatte.
Die Ausbildung brachte nur Fortschritte, wenn man intensiv übte. Manche der Mitstudenten organisierten sich Orgel-Übezeiten in einer Kirche, andere legten sich ein eigenes Instrument für daheim zu. Heimorgeln mit zwei Manualen und Vollpedal sind sauteure Instrumente, und ich besaß kein Geld. Ich probierte es deshalb zunächst in der Adventkirche, die bei mir um die Ecke war und in der eine schöne Sauer-Orgel steht.* Das Üben war dort leider nicht so regelmäßig möglich wie erwartet, und außerdem beanspruchte der Fahrtweg bald etwas mehr Zeit, da ich umgezogen war. Ich träumte von einem eigenen Instrument, auf dem ich jederzeit üben konnte.
Eines Tages hatte eine Freundin, die in vielen Dingen recht patent war, auf eBay eine Auktion für eine elektrische Orgel gefunden. Volles Pedal, zwei Manuale, mehrere Register und inklusive Orgelbank. Der Einstiegspreis lag bei einem Euro und es gab bislang keine Bieter. Meins! Das Instrument befand sich in einer Dachwohnung in Hamburg-Altona, also fuhr ich bei Gelegenheit hin, um es auszuprobieren. Der Verkäufer besaß die Orgel unfreiwillig, denn eine koreanische Orgelstudentin, die eine Weile in dem Dachzimmer gewohnt hatte, wollte das monströse Instrument verständlicherweise nicht mit nach Hause nehmen. Der hölzerne Musikschrank war Baujahr 1983 und die Lautsprecher waren bereits defekt. Den Ton hörte man nur über Kopfhörer, aber was machte das schon: Als Musiker soll man ja auch an die Nachbarn denken, denn manche möchten nicht kostenlos mit Musik versorgt werden, sondern sie wollen einfach nur ihre verdammte Ruhe haben. Die Manuale und das Pedal funktionierten durchgehend. Was brauchte man mehr zum Üben?
Der Verkäufer freute sich, dass er das sperrige Teil nun endlich loswerden würde und sogar noch einen Euro für die Entsorgung bekam. Ich heuerte einen günstigen Spediteur an, der die Orgel fünf Stockwerke hinunterschaffte und sie als Beiladung nach Berlin transportierte, bis hinein in meine Wohnung. So stand das Ungetüm dann auf einmal in meinem Zimmer. Das Teil war so groß und so schwer wie zwei Industriewaschmaschinen zusammen, und davor stand eine große Sitzbank. In Altona hatte das Instrument kleiner ausgesehen.
Endlich konnte ich jederzeit üben. Und anfangs machte das noch große Laune. Es fühlte sich cool an, daheim mit Pedal und mehreren Manualen spielen zu können. Auf die Dauer war der Sound in allen Registern jedoch zur schwer zu ertragen, denn die Klangerzeugung funktionierte rein elektrisch und völlig ohne Samples. Es hörte sich ungefähr nach Kraftwerk an, und vermutlich hatte die Band im Jahr 1983 ihre Klänge mit ganz ähnlichen Methoden erzeugt (»Musique Non Stop«) – nur, sie konnten es deutlich besser. Um das grässliche Geräusch nicht so lange ertragen zu müssen, übte ich bald nur noch, wenn es dringend nötig war, also zum Beispiel zehn Minuten vor Beginn des Unterrichts. Für den Fortschritt meiner Organistenausbildung war das strategisch äußerst nachteilig. Mich störte aber fast noch mehr, dass die Orgel durch ihre Größe mein Zimmer vollkommen dominierte, und jede Minute, die ich nicht übte, machte sie mir zum Vorwurf.
Dass ich das Orgelspielen schließlich von meinen Zukunftsplänen entfernte, hatte wenig mit diesem Instrument zu tun. Mit einem besseren Instrument hätte ich vielleicht mehr geübt. Musikalisch zog es mich jedoch stärker zur Chorleitung hin, und in der Wissenschaft taten sich berufliche Perspektiven auf, denen ich Vorrang gab. Kurz gesagt, ich ließ das Orgelspiel gut sein. Nun musste ich aber noch das Monstrum, das im vergangenen Jahr bei mir eingezogen war, wieder loswerden. Aber wie entledigt man sich einer Orgel? Ich konnte sie ja nicht einmal selbst bewegen. Anzünden ging auch nicht, da sie ja nicht nur aus Holz bestand, und das brennende Plastik hätte zu sehr gestunken.
Dann fand sich aber doch recht schnell eine Lösung. Ein Anruf bei der hochgeschätzten BSR genügte, und eine Woche später fuhr ein riesiger, orange-weiß karierter Müllwagen vor. Zwei schwere Männer kamen mit einem »Hund« (ein Brett mit vier Rollen) herein und amüsierten sich gutherzig über das kuriose Objekt. So etwas entsorgten sie wohl nicht alle Tage. Sie hoben die Orgel behutsam auf den Hund und schoben sie samt Pedal hinaus. Die Orgelbank behielt ich.** Ich kam mir richtig schlecht vor, denn als Musiker wirft man nicht einfach ein Instrument auf den Müll. Dennoch war ich froh, als die Orgel aus dem Zimmer war.
Ich schaute aus dem Fenster auf die Straße, wo die Jungs von der BSR die Orgel in den Müllwagen hievten. Ich machte noch schnell ein Abschiedsfoto. Die Männer winkten mir vergnügt zu und betätigten den Knopf, der die Pressplatte in Gang setzte. Jetzt kam ich mir vor wie ein Mörder. Es knirschte. Leise splitterte Holz. Die Orgel gab keinen Ton von sich und verschwand still sterbend in dem Hecklader. Furchtbar, dachte ich, jetzt komme ich in die Hölle. Aber es sollte alles gut werden. Denn als der Müllwagen abfuhr, spürte ich, dass ich mich von einer großen Last befreit hatte. Am Jüngsten Tag würde wohl zumindest Marie Kondo auf meiner Seite stehen. Den Schlüssel für den Spieltisch und den Kaufbeleg habe ich noch behalten, als Andenken an meine »Ein-Euro-Orgel«.
Bemerkungen
*) Die historische Pneumatik bewirkte, dass die tiefen Töne deutlich verzögert anklangen, so dass zwischendurch immer Zeit für einen Kaffee war.
**) Das war dumm, denn seitdem blockiert sie meinen Keller.