torstenroeder.de

# Geschichten

Belgische Franken

Woher kamen nur diese sonderbaren Münzen? Das Nickelstück zeigte eine Fünf, eingefasst in ein geometrisches Muster, darunter der Schriftzug: »Belgie«. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals in Belgien unterwegs gewesen zu sein, geschweige denn die dortige Landeswährung erworben zu haben. Aber das stimmt nicht.

Es lag bereits eine lange Reise hinter mir. Inmitten der Adventszeit befand ich mich auf der Rückreise von Italien, wo ich damals studierte, zurück in meine norddeutsche Heimat. Ich hatte einen recht günstigen Rückflug mit der traditionsreichen belgischen Airline Sabena bekommen.1 In Zaventem, wo ich an diesem Abend landete, würde ich gleich planmäßig umsteigen, um nach Hamburg weiterzufliegen. Das Bodenpersonal wirkte allerdings etwas gestresst, denn der Flug in die ehrwürdige Hansestadt war überbucht. Mit mir versammelten sich einige weitere, zu Recht verärgerte Personen, die ihre Zieldestination heute wohl nicht mehr erreichen würden, darunter mehrere Alphas, die sofort Verantwortliche, Vorgesetzte oder Entscheidungsträger sprechen2 wollten. Niemand dergleichen erschien. Die unglückliche Gruppe wartete noch eine ganze Weile am Infostand und wurde in regelmäßigen Abständen auf später vertröstet.

Wo sich derzeit das Gepäck der Reisenden befand, die nun nicht mehr ihr planmäßiges Flugzeug besteigen durften, wusste niemand. Beim Umstieg hätte es transferiert werden müssen und war deshalb nicht ausgehändigt worden. Nun schwebte es entweder bereits in Richtung Hamburg (mit dem planmäßigen Flug) oder es lag noch in Brüssel (irgendwo). Auf der Suche nach einer Person, die mir dazu etwas sagen könnte, verlief ich mich auf dem Flughafen. Eine sehr resolute, uniformierte Person hielt mich an. Vermutlich war ich bereits durch mehrere Sicherheitszonen gelatscht und hatte für erhebliche Irritationen gesorgt, weshalb die Uniform jetzt einschritt. Es könnte aber auch rein dienstliche Laune gewesen sein. Jedenfalls fragte die Uniform, wo mein Gepäck sei. Ich wusste es ja selbst nicht und entgegnete frustriert »my baggage is lost«, knapp einen derben Fluch vermeidend. Darauf tat die Uniform so, dass das wohl ja nur meine eigene Schuld gewesen sein könne. Nun war ich selbst kurz vorm Ausrasten. Die Uniform hielt sekundenlang inne, sagte dann abschätzig »you can go« und ließ mich weiter auf dem Flughafen herumirren,3 was ich ausgiebig tat.4

Als ich den Sabena-Schalter mit den anderen verärgerten Fluggästen wiedergefunden hatte, gab es Neuigkeiten. Eine paar Reisende mit Kindern konnten tatsächlich noch auf dem allerletzten heutigen Flug untergebracht werden. Zwei oder drei zufällig ausgewählte Personen ebenfalls. Allen anderen, nervlich inzwischen erledigten Reisenden, die heute definitiv keinen Flug mehr bekommen würden, bot man eine kostenlose Hotelübernachtung und einen Flug am nächsten Morgen an. Das Hotel lag eine Stunde entfernt im Stadtzentrum. Besonders amüsant fand ich, dass der nächste Flug, auf den man uns umbuchen wollte, schon um sechs Uhr morgens startete, also würde man um halb vier Uhr wieder aufstehen müssen. Inzwischen war es schon spät am Abend, und mit viel Schlaf war somit kaum zu rechnen.

Irgendjemand brachte die Idee auf, dass man ja auch mit der Bahn fahren könne. Ich erkundigte mich, ob ich statt des Hotels nicht auch einen Nachtzug von Brüssel nach Hamburg nehmen könne. Das war grundsätzlich möglich, und es gab an diesem Abend tatsächlich gerade noch einen Zug. Ich erbettelte mir noch schnell einen Kulturbeutel, den man mir nur zögerlich aushändigte, bemerkend, dass ich den doch gar nicht brauche, denn ich nehme doch die Bahn. Aber ich wollte mir im Nachtzug zumindest noch die Zähne putzen können. Ich bekam also Sabena-Kulturbeutel5 und einen Gutschein für die belgische Bahn ausgehändigt und lief zum Flughafenbahnhof.

Am Zugterminal angekommen, löste ich meinen Gutschein ein und stellte fest, dass ich damit sogar erster Klasse fahren durfte. Dagegen war nun nach all den Strapazen wirklich nichts einzuwenden. Der Zug fuhr in wenigen Minuten. Jetzt aber flott! Auf dem Bahnsteig angekommen, winkten sich bereits die Zugbegleiter das Abfahrsignal zu. Ich sprang in den Zug, und gleich darauf schlugen krachend die Türen hinter mir zu. Quietschend und ächzend fuhr der Zug an und rumpelte vorwärts in die Nacht. Ich hatte es geschafft. Meine Reise in Richtung Norden ging endlich weiter.

Während der Zug über die Gleise polterte, suchte ich nach einem Sitzplatz. Der EuroCity nach Hamburg-Altona war ein kilometerlanger Moloch, der aus zahllosen Waggons verschiedener europäischer Bahngesellschaften arrangiert war. Zwischen den Verbindungstüren unterschiedlichster Fabrikate – die gemein hatten, dass ihre Mechanik maximal umständlich war – hatte man einen hervorragenden Blick auf die pechschwarze Schotterstrecke.

Der Zug war gut besetzt und ich suchte die Waggons der ersten Klasse. Nach etlichen Türen und schmalen Gängen näherte sich mir ein Kontrolleur, der mit seinem putzigen Käppi wie ein französischer Gendarm anmutete. Meine Luxusfahrkarte regte ihn sichtlich auf, aber ich verstand kein Wort. Irgendwann wechselte er in grobes Englisch und erklärte, dass ich eine Fahrkarte erster Klasse hätte. Es gebe aber keine erste Klasse in diesem Zug, weshalb meine Fahrkarte, obacht: ungültig sei. Er werde aber ein Auge zudrücken und deshalb lediglich die Kosten für einen reservierungspflichtigen Sitzplatz in der zweiten Klasse verlangen. Und er wollte Bargeld. Was blieb mir schon übrig? Ich hatte nur italienische Lira dabei, über die er lachte. Schließlich fand ich in einer anderen Tasche noch einen alten Zehnmarkschein, den er tatsächlich annahm. Das Rückgeld zahlte er mir in belgischen Franken aus. Ich suchte mir einen Platz in der zweiten Klasse und schlief sofort ein.6

Das Zug-Ungetüm beförderte uns sicher durch die Nacht, und sechshundert Kilometer später traf ich unausgeschlafen, aber wohlbehalten am Hamburger Hauptbahnhof ein. Ich war froh, dass ich Sabena und Zaventem weit hinter mir gelassen hatte. Es war noch recht früh, und das Reisezentrum der Bahn öffnete gerade. Ich zögerte kurz und ging hinein. Ich war der erste Kunde an diesem Morgen und erzählte dem Schalterbeamten, was sich im EuroCity bei der Kontrolle zugetragen hatte. Der Bahnbeamter fand das lustig und ließ mich einen Antrag auf Erstattung ausfüllen.7

Daheim fand ich in meiner Tasche das Wechselgeld, das ich von dem belgischen Kontrolleur bekommen hatte, und legte es zu meinem Häuflein ausländischer Münzen, wo es bis heute liegt. Ich war seitdem nicht mehr in Belgien. Im folgenden Jahr, als die Fluggesellschaft Sabena pleite ging, wurden auch die belgischen Franken abgeschafft. Mittlerweile kann man die Franken auch nicht mehr in Euro umtauschen, und mir bleibt nur noch der Wert des Metalls – aber auch eine Erinnerung.

Bemerkungen

1) Übrigens sollte die Linie schon bald nach dieser Geschichte in den Bankrott gehen. Ich möchte betonen, dass das nicht nur an mir lag.

2) Lies: langsam grillen.

3) Es war vor dem 11. September 2001, da ging das noch ganz gut.

4) Vermutlich habe ich den Lost Baggage Service dann doch noch gefunden, denn das Gepäck traf zwei Tage später bei mir ein.

5) Den originalen Sabena-Kulturbeutel hat seine Fluggesellschaft bald um zwei Jahrzehnte überlebt und leistet mir hin und wieder gute Dienste.

6) Wer alles genau verfolgt hat, wird an dieser Stelle korrekt feststellen, dass ich auf das angekündigte Zähneputzen verzichtet hatte.

7) Etwa drei Wochen später fiel mir unerwarteter Reichtum zu: Die Bahn hatte mir nicht nur die Reservierungsgebühr erstattet, sondern auch den Preisunterschied zwischen der ersten und zweiten Klasse für die Strecke Bruxelles-Hamburg. Und das war gar nicht wenig. Ich habe nachgeschaut: Am 11.01.2001 gingen DM 95,90 auf meinem Konto ein.