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# Geschichten

Dante

Bei manchen Dingen weiß man vorher einfach nicht, warum man sie eine halbe Ewigkeit aufhebt. Ich habe nie geglaubt, dass ich dieses Buch in meinem Leben noch einmal brauchen würde. In der Tat ist es auch schon eine ganze Weile her, dass ich in einem modernen Antiquariat ein kleines grünes Taschenbuch erstanden hatte.

Die Geschichte beginnt im Herbst 2006, als ich mich für ein paar Tage privat in Alessandria aufhielt. Dieser kleine Ort in Norditalien, ungefähr zwischen Mailand und Genua gelegen, gibt deutschen Touristen nur selten einen Anlass, sich dorthin zu verirren. Am ehesten mag der Ort für Kenner der italienischen Literatur von Bedeutung sein, denn Umberto Eco ist dort geboren und zur Schule gegangen. Vielleicht dachte ich aus diesem Grund, dass es eine tolle Idee sei, ein Stückchen italienische Literatur mit nach Hause zu nehmen.

In Alessandria war ich weder als Tourist noch als ehemaliger Literatur­student. Emma, meine italienische Freundin, hatte mich dorthin eingeladen, weil die Wohnung ihrer verstorbenen Großtante leer stand und wir sie für eine Weile benutzen durften. Wir kauften für fünf Tage Vorräte und machten es uns gemütlich. Ich erinnere mich gut an das pollo al limone, das mit geriebener Zitronenschale und frischem Rosmarin zubereitet wurde und ganz fantastisch schmeckte. Die Stadt lockte uns nicht, und ohnehin sah man sie nicht, denn wie üblich für diese Jahreszeit wurde sie durch den dicken Nebel verborgen, den Umberto Eco kurz zuvor zum Thema seines Romans mit dem wunderbaren Titel Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana gemacht hatte.

Als uns nach ein paar Tagen die Decke auf den Kopf fiel, wagten wir einen Spaziergang durch die Stadt. Die Nebelsuppe hatte sich kurzfristig verzogen und die Provinzhauptstadt Alessandria zeigte sich für ein paar Stunden von ihrer schönsten Seite. Emma kannte sich gut aus und zeigte mir nicht nur die Kathedrale mit dem eleganten romanischen Turm, sondern auch das Liceo, an dem Umberto Eco sein Matura gemacht hatte. Von alledem war ich recht beseelt, da ich gerade ein Jahr eine Literatur­prüfung abgelegt hatte, bei der unter anderem Ecos Baudolino, dessen gleich­namige Hauptperson eben aus Alessandria kommt, auf dem Programm gestanden hatte.

In der Via Milano hielten wir an einem kleinen Bücherladen namens »Libraccio«* inne, und stöberten in den Wühltischen und Regalen. In der Literaturabteilung stieß ich auf ein kleines grünes Taschenbuch mit einem Labyrinth auf der Titelseite. Allein das war für mich Grund genug gewesen, es zu kaufen. Trotzdem sah ich es mir zunächst etwas genauer an: Es handelte sich um eine kommentierte Ausgabe von Dantes De vulgari eloquentia, in dem es um die italienische Sprache und ihre verschie­denen Dialekte ging. Aus dem Jahr 1300 allerdings. Genial, dachte ich, als einer, dem die Vorlesungen zur Sprachgeschichte noch im Kopf herum­schwirrten, das Buch nehme ich mit. (Was ich nicht bemerkt hatte, dass die Thematik nicht einmal entfernt etwas mit einem Labyrinth zu tun hatte.)

Drei Euro für ein Stück Sprach- und Literaturgeschichte fand ich nicht zu viel. Emma erklärte mich geradewegs für matto (komplett verrückt), nicht wegen des Preises, sondern da das Buch schließlich auf Latein sei und überhaupt, wozu ich das denn jemals brauchen werde? Es war jedoch eine zweisprachige Ausgabe, Latein-Italienisch, dazu ausgezeichnet kommen­tiert, und ich fand, ich brauchte jetzt genau dieses Buch und kein anderes. Emma erzählte ihrer besten Freundin am Telefon von meinem Schnäppchen, was offenbar für größte Heiterkeit sorgte, jedenfalls fiel unter großem Gelächter mehrmals das Wort pazzo (Irrer). Immerhin hatte das Buch damit bereits eine positive Wirkung erreicht.** In den nächsten zehn Jahren stand dieses Büchlein in meinem Regal, zusammen mit einigen weiteren italienischen Libracci, die ich zwar erworben, aber danach niemals mehr angerührt habe. Meine italienische Freundin Emma hatte offenbar Recht damit gehabt, dass es eine bescheuerte Idee war, das Buch zu kaufen.

Nun fügte es sich, dass ich an der Universität nochmals ein musik­wissenschaftliches Seminar besuchen sollte, denn ich brauchte einen sogenannten »Leistungsnachweis« für die Anmeldung des Promotions­verfahrens. Ich beschloss also, meine als Student erworbenen Kenntnisse zu reaktivieren. Es gab genau ein Seminar, das dafür infrage kam, und das war »Dante Alighieris Poetik des höfischen Liedes im musikgeschichtlichen Kontext«. Professor Haug freute sich, dass in dem musikwissenschaftlichen Seminar jemand mit italienischer Literatur- und Linguistik-Kenntnissen dabei sein wollte, und half mir sogleich ein Referat zur Dialektologie über, mit dem Wunsch, dass ich doch am besten De vulgari eloquentia präsen­tieren möge. Nun, das Buch hatte ich ja schon mal. Inzwischen war es auch gut abgehangen, und die Gelegenheit, es aus seinem Dornröschen­schlaf hervorzuholen, war genau richtig. Ich kämpfte mich durch Italienisch und Latein, aber es ging dank des ausführlichen Kommentars ganz gut.

In meinem Referat versuchte ich dann, Verbindungen zwischen allgemeiner italienischer Dialektkunde und Dantes historischer Perspek­tive herzustellen. Das machte mir auch riesig Spaß. Die historischen Dialekte unterscheiden sich in Italien vielerorts gar nicht so stark von den heutigen. Vor allem die größeren Dialektgruppen lassen sich sehr gut zuordnen, und wenngleich Dante stets nur Beispiele gab, waren diese doch sehr charakteristisch.*** Eine Woche nach dem Referat stellte sich dann heraus, dass ich den Leistungsnachweis gar nicht brauchte. Aber das Dante-Büchlein, das ich vor einem Jahrzehnt in Alessandria gekauft hatte, hat jetzt seinen Zweck erfüllt.

Gerade heute habe ich die meisten meiner Studienunterlagen in die Papiertonne entsorgt. Ich nahm noch einmal das kleine grüne Büchlein aus dem Regal und überlegte, was ich damit mache. Gehört es nun ebenfalls in den Papierkorb? Nein, Bücher wirft man nicht einfach weg. Ich würde die Geschichte des Büchleins aufschreiben, dachte ich mir. Wenn ich das Buch weitergebe, sollte die Geschichte mit auf die Reise gehen.

Ich blickte auf die Rückseite, auf der immer noch das einstige Preisschild klebte. Das Buch war schon zweimal rabattiert worden. Wer weiß, wie lange es schon in dem Laden gestanden hatte? Bücher warten auch gerne eine längere Weile auf den richtigen Augenblick.

Bemerkungen

*) »Libraccio« ist die pejorative Form von ital. »libro« und bezeichnet so etwas wie im Deutschen die »Schwarte« oder der »Wälzer«. Mit den italienischen Nachsilben kann man Wörter superschön verändern: Bekannt ist das libretto, ein kleines Büchlein, sowie libriccino (übrigens das liebste Prüfungsbeispiel meines Linguistik-Professors), librone etc. – Die Ladenkette Libraccio hat eine interessante Entwicklung von einem Gebrauchthändler zur akademischen Buchhandlung durchgemacht: https://www.ilpost.it/2015/10/21/la-storia-del-libraccio/

**) Dass ich mir einige Tage später am Flughafen einen Band Paperino kaufte und diesen sofort am Stück durchlas, bevor ich den Dantebuch auch nur ein einziges Mal aufgeschlagen hatte, tut hier nichts zur Sache.

***) Eine Präsentation, die dies schön veranschaulicht, gibt es hier: http://slideplayer.it/slide/10338793/