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# Geschichten

Kaffeh-Dampf.

Baden bei Wien, den 23. September 1825, am späten Vormittag. Wieder einmal hatte er die halbe Nacht bei schlechtem Kerzenlicht über seiner Arbeit gebrütet. Mit schwerem Schädel saß Ludwig nun erneut am Schreibtisch und grübelte über seinen Entwürfen für seine zehnte Symphonie. Das Notenpapier lag beschrieben vor ihm, ausgebreitet in einer konfusen Anordnung. Auf, neben und zwischen den vorgezeichneten Linien breiteten sich zahllose Fragmente aus, verziert mit Halbmondflecken von Kaffee von Kerzenwachs. Geschwind notierte Einfälle, ebenso geschwind wieder mit wilden Krakel erst verworfen, dann verbessert, verschoben, nochmals verändert und schließlich wieder verworfen. Bruchstücke, die zusammenzusetzen waren, als ob sie zu einem großen Puzzle gehörten, dessen Vorlage noch niemand gesehen hatte.

Der Kaffee schmeckte an diesem Freitagmorgen besonders übel. Bestimmt hatte die Haushälterin geschlampt und sich mit der Anzahl der Bohnen vertan. Er blickte durch das trübe Gebräu bis auf den Boden der Porzellantasse, wo sich ein paar durchgesickerte Kaffeekörnchen zu einem Bodensatz zu unieren suchten. Diese Plörre war wirklich ungenießbar.* Aber hatte er nicht — zum wiederholten Male! — erst kürzlich die genaueste Instruktion gegeben, dass für jede Tasse Kaffee genau 60 Bohnen abzuzählen seinen? Es mussten präzis sechzig sein, ſech‑zig!, und gleichwohl das Blechmaß aus dem Küchenschrank ziemlich genau diese Menge fasste, konnte es doch um ein oder zwei Bohnen daneben liegen, und deshalb seien die Bohnen gefälligst handzuverlesen. Anton, sein Sekretär, schimpfte ihn deshalb einmal, er sei ſo scrupulös wie ein Orientale, was Ludwig ziemlich ärgerte, weil er es unberechtigt fand. Schließlich spielte auch jeder vernünftige Musiker nicht einfach zwei Noten mehr, nur weil sie noch in den Takt gepasst hätten.

Erstes Interludium

»C-a-f-f-e-e, trink nicht so viel Kaffee!
Nicht für Kinder ist der Türkentrank,
schwächt die Nerven, macht dich blass und krank.
Sei doch kein Muselmann, der ihn nicht lassen kann!
«

Beim nächsten Male würde er die Bohnen jedenfalls wieder selbst abzählen. Das bereitete ihm insgeheim auch ein bisschen Vergnügen, denn eine Kaffeebohne ähnelte in ihrer ovalen Form dem Kopf einer halben Note, was ihn stets dazu inspirierte, beim Abzählen einen Rhythmus zu erfinden und sich eine Melodie dazu vorzustellen. Tititi-tik, schon klimperten ein paar Bohnen in den Maßbecher, tititi-tik, und nochmal vier einzelne, tik tik tik tik, gleichmäßig wie ein Metronom. Dass er das klickernde Geräusch der Bohnen wegen seiner Taubheit schon gar nicht mehr hören konnte, war ihm inzwischen einerlei, denn längst war die Musik in seiner Vorstellung mächtiger als alles, was man mit einem irdischen Instrument jemals hätte spielen, geschweige denn mit der lächerlich behelfsmäßigen Notenschrift hätte aufschreiben können.**

Die Oberfläche der Plörre vibrierte leicht, als sich von der Diele her Schritte näherten. Die Haushälterin trat ein und brachte die Tageszeitung, die Ludwig ihr mit mürrischer Miene – erstens wegen der Störung, zweitens wegen ihres*** miserablen Kaffees, drittens wegen seines Schlafdefizits und viertens aus Princip – aus der Hand grapschte. Die Zeitung kam gerade recht, denn an diesem Morgen wollten sich seine Gedanken jeglichen Ordnungsversuchen nur unter größtem Widerstand unterwerfen, und vielleicht war ein wenig Ablenkung erst einmal das beste. Ein undefinierbares Wort brummelnd, schob er ihr die leere Kaffeetasse hin, womit er ihr signalisierte, dass sie umgehend noch eine Portion des Gebräus zubereiten mochte, denn ein schlechter Kaffee war immer noch besser als gar keiner.

Zweites Interludium

»Coffee, Coffee muß ich haben,
Und wenn jemand mich will laben,
Ach, so schenkt mir Coffee ein!
«

Sein Blick schweifte über die erste Seite der frisch gedruckten Zeitung. Seine Majestät der Kaiser (und zugleich mehrfacher König) hatten kürzlich eine Reihe neuer Patente auf neue Erfindungen bewilligt. Ludwig verfolgte diese Rubrik stets mit Neugier, denn die Berichte beflügelten seine künstlerische Inspiration. Unter den neuesten Erfindungen hatte es ihm vor allem die Dampfmaschine angetan. Ein Mister Stephenson hatte ein Exemplar gebaut, welches angeblich in der Lage war, einen kompletten Eisenbahnzug ohne Pferde, nur mithilfe von Dampfkraft, fortzubewegen. Just in der kommenden Woche sollte erstmals eine öffentliche Fahrt auf einer neuen Strecke zwischen Brusselton und Darlington stattfinden. Vielleicht stand darüber ja etwas in der Zeitung. Außerdem wollte er sofort informiert sein, wenn ein neuer Hörapparat erfunden wurde, der ihm die lästigen Konversationszettel, mit deren Hilfe er seit über fünf Jahren kommunizieren musste, ersparen würde.

Er überflog die ersten Zeilen, immer noch schläfrig, und ließ es zu, dass seine trägen Pupillen hier oder da die Umrisse eines Wortes an sein störrisches Gehirn übergaben, wo diese (nicht ganz ohne Widerstand) bruchstückweise entziffert wurden. Da zeichneten sich im schwarzweißen Getöse der Frakturlettern auf einmal bedeutungsschwere Konturen ab: … Geſchwindigkeit … Dämpfe, und siehe, im gleichen Absatz: … Kaffehpulver … Aroma. Ludwig, dessen geistiger Morgennebel sich beim Anblick dieser Worte zusehends lichtete, konzentrierte sich nun, und er begann den Artikel ordentlich von ganz vorn zu lesen. Es ging um ein neues Privilegium für eine optimierte Kaffeh-Dampf-Maſchine von Ignaz Meißner, einem technischen Chemiker aus Wien. Die Verbesserung bestand in einer Luftpreſſe, welche das durch die heißen Dämpfe aufgelöſete Aroma durch Löſchpapier mit ſolcher Gewalt durchpreſſe, daß auch nicht ein Atom mehr in dem ausgelauchten Kaffehpulver zurückbleiben könne, und weiter: wodurch eine große Erſparung an Kaffeh erzweckt werde, dem auf dieſe Art erzeugten Kaffeh-Extracte kein anderer gleich kommen könne, und der Prozeß an Geſchwindigkeit gewinne. Ja, Wahnsinn! Das musste er sofort notieren.

Was sich sodann zutrug

Ludwig ließ umgehend eine Dampf-Kaffeemaschine anschaffen und sparte fortan sehr, sehr viel Kaffeepulver, denn er benötigte jetzt nur noch 25 Bohnen für ein Gebräu von einer Stärke, das Wellington den Sieg gekostet hätte, wenn es die Franzosen erfunden hätten. Seine »Zehnte« wurde in Nullkommanix fertig: wahrlich ein Meisterwerk, das alle seine bisherigen Werke weit übertreffen würde! Am Tage darauf jedoch, oh weh! explodierte die Kaffeemaschine, weil die Haushälterin, gewohnheitsmäßig der älteren Instruktion folgend, 60 Bohnen abgezählt und die übermäßige Menge an Pulver die Luftpreſſe verſtopft hatte. Das ganze Haus krachte zusammen und Ludwigs X. Symphonie ging für immer verloren. Zum Glück war niemand ernstlich verletzt worden! Durch den lauten Knall hatte der arme Anton nun zwar einen permanenten Tinnitus, der aber glücklicherweise genau auf der Frequenz des Kammertones lag (exakt nach Pariser Norm), so dass er seine Geige fortan immer perfekt stimmen konnte. Ludwig indessen landete ziemlich unsanft auf dem Kopfsteinpflaster, wobei sich durch den starken Aufprall der gutartige Tumor löste, der seinen Gehörgang verstopft hatte. Er konnte nun wieder hören, spielte vor Freude fortan nur noch Mundharmonika und wanderte frühjahrs nach Amerika aus, wo er wenige Jahre später auf einem Raddampfer in Louisiana beim Mokkatrinken gesehen wurde und den Blues erfand. – Die Haushälterin fand man etwa zwei Meilen von dem zerstörten Haus entfernt, unter leichtem Schock stehend, aber sonst unversehrt, in einem Heuhaufen.

Bemerkungen

*) Man muss in dieser Hinsicht Partei für die Haushälterin ergreifen, denn Ludwigs eigener Geiz war im Grunde genommen die Ursache der ganzen Misere. Seine Kaffeemaschine, die ihm lieb und teuer war (aus der Werkstatt von Dubelloy!) und die er nicht ersetzen wollte, war nämlich längst angerostet und verursachte einen üblen Beigeschmack, der nur durch eine inkrementierte Dosis an Kaffeepulver kompensierbar war.

**) Ganz davon abgesehen waren ihm insbesondere diese jämmerlichen Musiker zuwider, die sich dem Anschein nach einzig um die technische Umsetzbarkeit scherten.

***) Gewiss nicht ganz korrekt, denn er trug ja eine Mitschuld daran (vgl. Anm. 1).